Es ist wieder eine Geschichte aus der Geschichte.
Die Arnfried war ein 1911 in Dienst gestellter Fracht-und Passagierdampfer der Hamburg-Bremer Afrika Linie, die zum Jahreswechsel 1925-1926 vom Norddeutschen Lloyd komplett, also mit Fahrplan- und Schiffen, übernommen wurde. Da das Schiff aber bereits vor dieser Übernahme bereits Arnfried hieß und in besagtem Liniendienst eingesetzt war, ist die zeitliche Einordnung in die Timeline der Datei Norddeutscher Lloyd nur eine ungefähre.
Transkript aus Köhlers Flottenkalender 1936, Seiten 106 bis 108.
Aus dem Tagebuch eines Schiffsarztes.
Von Dr. med. A. Heuberger.
Der Post- und Frachtdampfer Arnfried liegt in einem kleinen Hafen der liberianischen Küste, oder genauer gesagt, er liegt davor, weil er wegen der geringen Meerestiefe nicht herankommen kann, etwa einen Kilometer von der liberianischen Küste entfernt an einer Stelle, der gegenüber an Land einige Dutzend Negerhütten und ein paar europäisch aussehende Handelshäuser stehen. Die schwarzen Herren dieser „Stadt“ bemerken die Ankunft des Dampfers und suchen auf irgendeine Weise an Bord zu kommen: als Paddler in den Frachtbooten als Kokosnuss- und Ananasverkäufer, als Bleistiftträger des schwarzen Herrn Zollbeamten usw. Sechszig Mann schwarze Besatzung sind während der ganzen afrikanischen Küstenfahrt dauernd an Bord, als Verladearbeiter, als Wasch-männer und Reserveheizer. Einzelne etwas wohlhabendere schwarze Herren und Damen haben sich als Deckpassagiere eingenistet, um mit dem Schiff, als der einzigen Reisegelegenheit, ihre küstenaufwärts oder küstenabwärts wohnenden Verwandten zu besuchen; kurz gesagt, es fehlt nicht an schwarzem Gewimmel und Gekreische an Bord des Dampfers Arnfried.
Ein kleiner Raum im Mittelschiff ist Apotheke und zugleich ärztliches Sprechzimmer. An der verschlossenen Tür hängt ein Zettel; Dr. H.(euberger), Sprechstunde 9 bis 10, 4 bis 5. Ich komme um 9 Uhr, neugierig, was sich wieder für ein Sammelsurium von schwarzen Patienten eingefunden hat. --- „Oh, oh, Doktor, gib mir Medizin, oh, Doktor, gib mir Medizin zum Trinken, mir Medizin zum Essen, nein, mir allein Medizin“,
So schreien mir etwa ein Dutzend Schwarze in ihrem dürftigen Küsten-Englisch entgegen; dazu wird gedrängt, geschoben und geboxt um den vordersten Platz an der Sprechzimmertür, denn jeder will der Erste sein; ist es nicht gelungen, sich vorzukämpfem so versucht man das Mitleid des „Massa Doktor“ zu erregen, um möglichst rasch an die Reihe zu kommen.
,,Oh, Massa, ich bin der Kränkste von allen, ich bin very, very krank, laß mich zuerst herein, sonst bin ich tot!“ Dazu hält man sich den Bauch, krümmt sich und markiert eine weinerliche Stimme.
Einer ist so glücklich, als Erster dranzukommen.
„Was fehlt dir?“
„Oh, Massa, gib mir Medizin zum Trinken!“
„Sage oder zeige mir, wo du krank bist!“
„Eine Medizin zumTrinken!“
„Jetzt sage mir endlich, was dir fehlt!“
„Medizin für Trinken!“
„Hinaus mit dir, wenn du nicht sagen willst, was dir fehlt!“
„Oh, Massa, eine Medizin zum Trinken für meinen Fuß, mein Fuß ist krank!“
Er machte seinen Unterschenkel frei mit einem handtellergroße Tropengeschwür, dass ich ihm kunstgerecht verbinde; aber er bleibt unzufrieden, denn nur die Trinkmedizin hätte ihm geholfen.
Es kommt Patient Nr.2.
„Massa, gib mir Tablette!“
„Für was brauchst du eine Tablette?“
„Mein Kopf ist krank, very krank, gib mir Tablette!“
Ich gebe ihm eine Tablette Pyramidon, und freudestrahlend zieht er ab. Aber seine Freude währt nicht lange; einer seiner schwarzen Stammesgenossen hat die weiße Tablette in seiner Hand entdeckt und schon entreißt er sie dem Verblüfften; im nächsten Moment ist sie auch ihm entrissen, und ein Dritter hat sie sofort in seinem Mund in Sicherheit gebracht. Patient Nummer 2 weiß nicht, ob er heulen oder besser den Dieb verprügeln soll; er entschließt sich zu ersterem, denn das ist das Einfachere. Anstatt des nächsten schwarzen Patienten kommt der I.Offizier und erzählt, er habe eben im Kohlenbunker einen kranken Neger gefunden. Der arme Kerl, der sich wie ein verwundetes Tier verkrochen habe, müsse wohl sehr krank sein, denn Eiter tropfe aus seiner Hose.
Ich unterbreche meine Sprechstunde um den inzwischen an Deck geschafften, schwerkranken Schwarzen zu untersuchen. Nach Entfernung der zerfetzten und verschmutzten Kleidungsstücke sehe ich einen abgemagerten Neger vor mir, dessen linker Oberschenkel auf das zwei bis dreifache des normalen Umfanges angeschwollen ist und mehrere Fisteln zeigt, aus denen wie aus kleinen Brünnlein Eiter fließt. Voll Angst und doch ergeben wartet der arme Kerl der Dinge, die über ihn kommen sollen. Ich lasse ihn auf eine alte, frisch gewaschene Decke lagern; der Obersteward macht eine verhältnismäßig recht gute Narkose, 1. Offizier assistiert, und ich operiere, d. h. ich mache mit Messer und Schere dem in der Tiefe sitzenden Eiter Luft. Wohl an die hundert Neger bilden, in respektvoller Entfernung im Kreise herumstehend, die Wände dieses provisorischen Operationssaales, und doppelt so viele neugierige Negeraugen folgen gespannt jeder meiner Bewegungen. Kam in den nächsten Tagen einer dieser Schwarzen in meine Nähe, so ahmte er mit zwei Fingern eine schneidende Schere nach und rief mir zu: „Oh, Massa, oh, du machst es so! Oh, das ist nix gut für mich, Ich mag das nicht!“
Ich gehe in die Apotheke zurück, um meine unterbrochene Sprechstunde wieder auszunehmen. Fast alles hat sich inzwischen verlaufen, bzw. ob der gesehenen Dinge die eigenen Schmerzen ganz vergessen; nur noch ein verhältnismäßig gut gekleideter schwarzer Passagier wartet auf mich.
„Massa, bist du ein deutscher Doktor?“
„Ja!“.
„,Oh, Massa, ich weiß, die deutschen Doktors sind die besten Doktors auf der Welt.“
„Wer sagt dir das?“
„Das weiß ich; aber sag, Massa, bist du auch ein großer Doktor in deiner Heimat?“
„Selbstverständlich bin ich das!“
„Wieviel Frauen hast du?“
„Ich bin nicht verheiratet, ich habe keine Frau.“
„Was, du hast keine Frau und willst ein großer Mann sein? Oh, du bist kein großer Mann, du bist ein ganz, ganz kleiner Mann. Dann bin ich sogar noch ein größerer Mann als du, denn ich habe wenigstens drei Frauen.“
fährt er stolz in seiner Rede fort.
„Was? Du hast drei Frauen? Erzähltest du mir nicht gestern, daß du durch die Missionare getauft wurdest und ein Christ geworden bist? Und Christen dürfen doch nur eine Frau haben.“
„Du hast ganz recht, Massa, ich habe ja auch nur eine Frau geheiratet, die beiden anderen habe ich mir gekauft! Meine jüngste Frau hat immer Husten, kannst du mir geben Medizin für Husten?“
„Selbstverständlich, hier hast du Medizin, kostet einen Schilling.“
„,Oh, Massa, ich habe kein Geld, ich kann nicht bezahlen.“
„Dann kann ich dir die Medizin nicht geben.“
„Massa, sag noch eines, hast du Medizin für Feind, hast du Schießgewehr?“
„,Ja, ich habe eine Pistole.“
„Oh, verkauf’ mir, Massa, verkauf mir! Was kostet?“
„Das kannst du nicht bezahlen.“
„Oh, Massa, gib mir doch, ich lasse niemand sehen, und ich gebe dir 20 Pfund« (20 englische Pfund sind rund vierhundert Mark.)
Der falsche Kerl, der nicht einen Schilling für Medizin bezahlen wollte, streckt mir eine 20-Pfundnote hin. Ich
aber schiebe ihn sacht zur Tür hinaus. Schusswaffen an Eingeborene zu verkaufen, ist in ganz Afrika verboten und wird schwer bestraft. Die Sprechstunde ist für den Vormittag beendet, und ich bin neugierig, was mir der Nachmittag bringen wird.
Transkriptende. Buchrettung vom 23.01.2025Transkript aus Köhlers Flottenkalender 1936, Seiten 106 bis 108.
Im Köhlers Flottenkalender, Jahrbuch 1932, berichtet ein Offizier der Besatzung des Dampfers BORNEO (Norddeutscher Lloyd, Baujahr 1902) von einer überstandene Sturmfahrt, in einem Taifun in der China See. Der Bericht bezieht sich auf das Jahr 1911. Der Bericht ist, für mich nachvollziehbar hoch emotional, und atmet im Rückblick auf ein Geschehen 21 Jahre zuvor, eine gehörige Portion Altersmilde.
Transkript aus Köhlers Flottenkalender, Jahrbuch 1932
Taifun
Ein Sturmerlebnis in chinesischen Gewässern.
Von Georg Schulze-Altenburg
Am 10. Oktober 1911 passiert der kleine Küstendampfer Borneo (Bj.1902, 2168 BRT, Norddeutscher Lloyd) die felsige Einfahrt von Hongkong und steuert in das chinesische Meer hinaus. Das 2168 Tonnen große Schiff ist fast ohne Ladung. Dagegen hausen 200 Chinesen als Passagiere mit Frauen und Kindern, Gepäck und Hausrat eng beieinander im Zwischendeck. Das Deck- und Maschinenpersonal sind ebenfalls Chinesen. Nur der Kapitän, zwei Wachoffiziere und drei Maschinisten sind Europäer. Die Fahrt geht südwärts nach Britisch-Nord-Borneo. Sandakan soll in 5 Tagen erreicht werden. Lachender Sonnenschein, kein Wölkchen am Himmel, spiegelglatte See ringsum. Nichts deutet darauf hin, daß von Südosten her mit rasender Geschwindigkeit eine urgewaltige Naturkatastrophe heranbraust. Drinnen im Hafen aber ist jede Kreatur aufgepeitscht und wie besessen von dem einen Wort: Taifun! Droben vom Mast der Wetterwarte schreit seit Stunden mit magischer Gewalt das Signal: „Taifun“ - über der Nordspitze von Luzon - nordwestwärts ziehend. Wie ein teuflischer Dämon ist dieser Alarmruf in das friedliche Hafenbild gestürzt, hat es im Nu in ein einziges, wirbelndes, kreischendes, jagendes Chaos „Flucht“ verwandelt. Der harmlose Signalmast der Wetterwarte wird zur Hetzpeitsche. Jeder Dampfer muß zehnfach vertäut, jede Dschunke und jeder Sampan rechtzeitig in einer windgeschützten Bucht geborgen sein, ehe der Signalreihe „Taifun noch 5 Stunden“ – „noch 3 Stunden“ – „noch eine Stunde“ entfernt, der Kanonenschlag folgt: „Rette sich, wer kann!“
Und wir auf der Borneo: Wir glaubten dem Wettergott ein Schnippchen geschlagen zu haben. Beim Bekanntwerden der ersten Taifunmeldung in See gegangen, müssen wir nach menschlichem Ermessen beim Einsetzen des Unwetters bereits entronnen sein. Unbeschwert und stolz übernehme ich auf der Kommandobrücke die Wache, mein erster selbständiger Dienst als Wachoffizier in fremden Gewässern. Niemand an Bord ahnt, daß um dieselbe Stunde Hongkong aufatmet. Eine Laune des Schicksals hat die Bahn des Taifuns plötzlich um 90 Grad herumgeworfen. Weitab vom Hafen überquert er nun südwestwärts das chinesische Meer. Und während der Signalmast der Wetterwarte das seltene Ereignis beruhigend der Menschheit vermittelt, stellt man bei der Hafenbehörde achselzuckend fest: Die Borneo kann nicht mehr gewarnt werden. Sie ist bereits außer Signalweite. Ahnungslos steuern wir daher geradewegs dem Verderben entgegen. Wir hatten keine Funken-Telegraphie. In unserem Rücken verschwinden die letzten Felsspitzen der chinesischen Küste unter dem Horizont. Noch steht die Quecksilbersäule des Barometers ruhig und fest. Bald sinkt der Sonnenball in das Meer. Purpurne Flammen brennen am westlichen Himmel. Tiefe Stille ringsum. Schnurgerade zieht die Rauchfahne über unser Kielwasser und ballt sich in dicken, schwarzen Wolken hinter uns. Eintönig rauscht die Bugwelle. Langsam und feierlich zieht die hereinbrechende Nacht die milchigen Schleier der Dämmerung von Osten her hinweg. Majestätisch enthüllt sich in strahlender Klarheit die Ewigkeit der Sternenwelt. Das Barorneter steht.
Gegen Mitternacht erwacht aus tiefem Schlafe das Meer. In langen Intervallen, erst kaum spürbar, ganz allmählich zunehmend, rollt die Borneo nach Steuerbord über, richtet sich auf, neigt sich nach Backbord, gewiegt von langen, sanften, von Nordosten her anrollenden, Dünungswellen. Nun sind auch die Sterne droben verändert, unruhig geworden, wie die Tiere unruhig werden wenn etwas in der Luft liegt. Ein zitterndes Flimmern zerbricht das ruhige Strahlen des Firmaments. Doch das Barometer steht.
Der neue Morgen bringt eine leichte Brise mit. Die Wasserfläche belebt sich mit spielenden Wellen. Frau Sonne zieht, kaum der Tiefe entstiegen, einen zarten Schleier vor das leuchtende Antlitz. Das Barometer fällt!
Wenige Stunden später wissen wir: unsere Rechnung stimmt nicht. Statt uns mit jeder abgelaufenen Meile von der Gefahr zu entfernen, nähern wir uns dem Taifun mit zunehmender Deutlichkeit. Wir wissen nichts davon, daß er auf verändertem Kurs uns den Weg abschneiden will. Wir glauben ihn hinter uns und wollen ihm entrinnen. Die Maschine erhält die Anweisung, zu feuern, was die Kessel halten. Der stampfende Kolbentakt erreicht Höchstgeschwindigkeit. Stetig nimmt der Wind zu, ändert langsam seine Richtung linksherum. Leichte weiße Schaumkämme tanzen über das Wasser. Hier und da hüpft schon ein vorwitziger Spritzer über die Reeling. Immer rascher rollt das Schiff in der schwerer anlaufenden Dünung, immer tiefer holt es nach jeder Seite über. Einzelne Wolken tauchen am Himmel auf. Das Barometer fällt weiter!
Mittag ist vorüber. Vor den Kesseln wird Übermenschliches geleistet. Flucht! Flucht! donnern die Maschinen, rast die Schraube. Flucht, gejagt bäumt sich die Bugwelle am scharfen Vordersteven hoch und schäumt zischend an der Bordwand entlang. In den Lüften regiert schon dieAngst vor dem Kommenden. Angstvoll zerflatternd reißt der Rauch in Fetzen vom Schornsteinrand. Angst bricht auch in einzelnen Schreien aus dem stumpfen Volk, das in der drangvollen Enge des dumpfen Zwischendecks wehrlos ein Opfer der Seekrankheit wird. Das Barometer fällt rascher!
Die See wird gröber. Lange, schneeige Schaumstreifen gischten über das Wasser. Der Wind dreht in immer heftiger werdenden Böen sprunghaft linksherum. Die Wolken ballen sich schwarz und drohend am Himmel. Nur ab und zu blinkt die Sonne kraftlos milchig hindurch. An Deck herrscht fieberhafte Tätigkeit. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird gezurrt und gelascht. Der Schreibstift des Barographen hat bis jetzt eine sanft abfallende Kurve gezeichnet, nun fährt er fast senkrecht nach unten! Es fängt an zu regnen. Der Wind heult in den Wanten. Höher läuft die See. Aus den Schaumkronen werden Brecher. Klatschend schlagen sie gegen die Bordwand, springen über die Reeling an Deck. Um 4 Uhr nachmittags löse ich den ersten Offizier auf der Brücke ab. Er beeilt sich nach unten zu kommen, um noch ein letztes Mal alles auf Seefestigkeit zu prüfen. Ich bin allein auf der Brücke, die auf mehreren eisernen Säulen ruhend, hoch über dem Bootsdeck vor dem Schornstein das Schiff überragt. Der Mittelteil mit der Steuereinrichtung und den Kommandoapparaten wird von einem mit Segeltuch übernagelten Holzdach geschützt. Die vordere Reeling ist bis Brusthöhe ebenfalls mit Holz verschalt. Am Steuerrad steht der chinesische Vor-Mann. Der Wind ändert nicht mehr die Richtung. Die Böen haben sich zum Sturm entfaltet. Eine schwere Wolkendecke hängt tief herab, es regnet in Strömen. Schwer arbeitet das Schiff. See auf See jagt über das Deck. Dnnkler und dunkler wird es, um 5 Uhr ist tiefschwarze Nacht um mich. Der Barograph hat den denkbarsten Tiefstand erreicht. In wildem Zickzack malt er seltsame Zeichen auf das Papier. Heulender Orkan rast über die See. Donnernd prallen gigantische Wogen gegen die Bordwand, schießen steilauf gen Himmel, um im nächsten Augenblick tosend über uns zusammenzubrechen. Ungeheure Fluten rauschen über die Deck. Hochauf bäumt sich das Schiff. Der halbe Kiel taucht aus dem Wasser. Himmelan jagt der Bug. In der nächsten Sekunde stürzt er kopfüber mit jähem Ruck in ein Wellental. Nun ragt das Heck hoch in die Luft. Die Schraube, ihrem Element entrissen, geht rasend durch. Selbst die tiefschleppenden Wolken verwandeln sich in einen reißenden Wasserschwall. Ringsumher dampfender Gischt. Durch Brecher, Regen und Dunkelheit, leuchtet hie und da der rote und grüne Schein unserer Positionslaternen, wenn die See vor ihnen steil hochschießt, fiir mich in meiner Einsamkeit inmitten der entfesselten Elemente eine Quelle der Zuversicht. Längst haben wir die Geschwindigkeit auf langsame Fahrt herabsetzen müssen. Das Steuer ist hart nach Luv gelegt und festgezurrt, damit es den halb von Backbord vorn mit unbeschreiblicher Gewalt anrasenden Wellenbergen nicht gelingt das Schiff quer zur See zu werfen: eingeschlagene Ladeluken, Vollaufen der Räume, Überrollen und --- in wenigen Minuten wäre der Untergang besiegelt.
Das Fauchen und Johlen der Lüfte, das Krachen und Klatschen der Brecher, das Rauschen der überall flutenden Wassermassen betäubt die Ohren. Die Dunkelheit und der peitschende Regen verhindern jede Sicht. Allein, abgeschnitten von Welt und Zeit stehe ich taub und blind hoch über dem Schiff, ohne Ahnung, was auf und unter den Decks passiert, von den wilden, schleudernden aufwärtsfliegenden, zur Hölle abstürzenden Bewegungen des schwer kämpfenden Fahrzeugs phantastisch mitgerissen durch die Tobsucht der Natur. Plötzlich erhält die Borneo einen so gewaltigen Stoß, daß ich schwer auf das Deck hinschlage. Eine gigantische Wand wächst vor uns auf, bricht zusammen und begräbt das ganze Schiff unter sich. Mit Krachen und Splittern geht mein einziger Schutz, die Holzverkleidung der Brückenreeling in Trümmer. Überschüttet von brechenden Brettern, mitgeschwemmt von den Fluten schlage ich gegen das Steuerrad, klammere mich daran fest, richte mich auf - der Steurer ist verschwunden, von der See über Bord gerissen! An irgendwelche Rettungsversuche ist nicht zu denken. Ich kann nicht einmal das Steuerrad loslassen, ohne selbst über Bord zu gehen. Noch versuche ich, mich an der Steuersäule festzubinden, da rasen neue Wassermassen heran. Über mir splittert das Dach. Die durch das aufgenagelte Segeltuch zusammengehaltenen Trümmer verwickeln sich in die Leine, die zum Schornstein führt: Die Dampfpfeife heult auf, stimmt mit schauerlichem Klagen in das Höllenkonzert, unheimlich, nervenzerreißend. Immer lauter wird ihr Tönen, hebt sich über alle Stimmen der Natur, gebietet dem Orkan, zu schweigen, befiehlt den Seen den rasenden Ansturm zu zähmen, und - wahrhaftig es wird still um mich! Nur der Regen stürzt weiter vom Himmel, die aufgewühlte See kocht und brodelt ringsum, doch kein Sturmwind mehr jagt sie gegen das Schiff und darüber hinweg, wir sind im Zentrum des Taifuns. Grabesstille in den Lüften. Nur das laute, tiefe Heulen der Dampfpfeife füllt den weiten, in schwarze Nacht getauchten todes-schwangeren Weltenraum. Langsam löst sich der Krampf der Glieder. Auge und Ohr erwachen aus der Betäubung. Die verkrallten Hände öffnen sich. Ich richte mich auf und weite mit einem tiefen Atemzug die vom Orkan gepreßten Lungen. Ein Schatten taucht neben mir auf: der Kapitän.
Keine Zeit bleibt zum Fragen. Nur wenige Minuten Ruhe sind uns geschenkt. Bei dem schweren Schlingern des Schiffes gelingt es nur mit Mühe unseren vereinten Kräften, zwischen den umherschlagenden Trümmern des Daches die Leine der Dampfpfeife zu erfassen und durchzuschneiden. Das Heulen verstummt, welch eine Erlösung für Ohr, Nerven und Hirn! Ich melde kurz das Überbordgehen des Steuerers. Der Kapitän winkt ab: „Ist nicht das einzige Opfer. Vorläufig ist niemand abkömmlich. Steuern Sie selbst. Und betreten Sie die Brückenenden nicht mehr. Die Stützen sind losgerissen. Gleich wird es wieder losgehen. Ich werde unten dringend benötigt. Aushalten!“
Mit freundlich aufmunterndem Schlag auf meine Schulter verschwindet er. Könnte ich doch erfahren, wie es im Schiff aussieht. Was mag mit den Passagieren sein? Wen hat der Taifun schon verschlungen, und wen wird er noch holen? Wer weiß es? Vielleicht die ganze, brave Borneo und uns alle mit! Kaum 10 Minuten Atempause. Ein pfeifendes Johlen kündet das Ende der Ruhe. Ich schlinge mir schnell das Tau, mit dem das Steuerrad gezurrt ist, um den Leib, und schon sind wir wieder mitten in der Hölle des Orkans und schon reißen die ersten schweren Seen die letzten Trümmer des Brückendaches hinweg. Wo ist die Grenze geblieben zwischen den stürzenden Srömen der niederbrechenden Wolken und den alles überflutenden Meereswogen? Fast ununterbrochen bin ich nur von reißendem Wasser umgeben, minutenlang darunter begraben, kaum noch mit den Füßen auf festem Boden, meist ungewiß, ob denn das Schiff noch unter mir ist, oder ob ich allein auf abgerissener Brücke im Meere treibe. Immer lähmender liegt es auf meiner Brust, preßt mir die Kehle zu, will mich in die Kniee zwingen. Immer schwerer wird es mir den äußersten Willen zum Widerstand aufzubringen. Aber endlich, endlich, scheint auch die Natur zu erlahmen. Die Brecher verlieren an Wucht, schlagen bald nur noch vereinzelt bis zu mir herauf. Der Regen läßt nach. Die Wolkendecke zerreißt, einzelne Sterne blinken tröstlich. Der Lebensmut kehrt wieder. Das Schiff tobt nicht mehr als Spielball der Furien durch den Raum. Es nimmt wieder Fahrt auf. Ich kann mich von dem Tau befreien, zurre das Steuerrad los und bringe den Bug auf den richtigen Kurs. Heller und heller wird es. Die Lüfte beruhigen sich. Der Taifun zieht ab.
Eine Ewigkeit liegt hinter mir als der erste Offizier zur Ablösung erscheint, es ist 9 Uhr abends. Abgeschüttelt und vergessen aber ist das eben Erlebte, jetzt da ich höre und sehe was das Schiff, was die Besatzung, was die Passagiere, in den letzten Stunden durchlebt haben: Zunächst war alles in Ordnung gegangen. Angeklammert an ausgespannte Haltetaue machten mit kurzen Unter-brechungen der Kapitän und der erste Offizier immer wieder die Ronde über die überfluteten Decks. Um 5 Uhr nachmittags schlug das Wetter dem kämpfenden Schiff die ersten Wunden. Ein mächtiger Ventilator wurde von einem Brecher auf dem Vordeck losgerissen und in gewaltigem Schwung in die Fenster des Kartenhauses, das oben auf dem Bootsdeck steht, geschleudert. Die vordere Wand schlug durch, unendliche Wassermassen drangen ein und richteten unter den Seekarten, Chronometern, Sextanten ein wüstes Durcheinander an. Das meiste zur Navigation benötigte Material wurde unbrauchbar, vieles trieb auf und davon. Bald riß ein Boot aus den Krampen, schlug haltlos hin und her, zertrümmerte vollständig. Fast gleichzeitig brachen bei dem zweiten Luvboot die Taljen. Es wurde von der See mit ungeheurer Wucht gegen den hinteren Mast geschleudert, zerschmetterte einen der beiden Ladebäume und ging über Bord. Der niederstürzende Ladebaum durchschlug das festgeschalkte, dreifach mit geteerten Persenningen überzogene Ladeluk 4. Schon faßte der Orkan zu, fuhr behende unter den aufgerissenen Bezug, und nach wenigen Sekunden flogen die Fetzen knatternd durch die Luft. Jetzt war höchste Eile geboten. Die nächsten Minuten entschieden über unser Schicksal. Gelang es nicht, eine neue Persenning über das Luk zu spannen, bevor die rasende See die Lukendeckel erfaßte und hinwegriß, dann lief der Schiffsraum voll und der Untergang war da. Zu allem Unglück lagen die 200 Passagiere gerade unter diesem Luk im Zwischendeck, wimmernd und stöhnend, mit ihrem Gepäck und ihrem Hausrat durcheinanderrollend in der bestialischen Luft des abgeschlossenen Raumes über alle Maßen seekrank, nun auch völlig durchnäßt und überschwemmt von dem eingedrungenen Wasser. Unter dem anfeuernden Beispiel der Offiziere leistete die Mannschaft Übermenschliches. In wenigen Minuten war das Luk gedichtet. Nun hinauf zum Kartenhaus. Oben auf dem Bootsdeck mußten die Leute einen furchtbaren Kampf mit dem tobenden Orkan bestehen. Fünf der Mutigsten drangen bis zur Mitte vor, da donnerte eine alle bisherigen an furchtbarer Wucht übertreffende Sturzsee heran, durchschlug das Maschinenoberlicht und riß die fünf Menschlein mit sich hinaus in den Höllenrachen der Finsternis. Ungeheure Wassermengen stürzten in den Maschinenraum hinab, jagten in gewaltigem Strome in den Heizraum, warfen die überraschten Heizer gegen die Schotten, über die Kohlenhaufen, gegen die Kesseltüren. Im Hilfsmaschinenraum ertrank die Lichtmaschine. Nacht wurde es mit einem Schlage auch in den Innenräumen. Wer dachte in diesem Augenblick an die armen Passagiere? Nicht die Offiziere, die um die Rettung aller rangen, nicht die Maschinisten, die nun die Pumpen, die Kessel, die Maschine allein bedienen mußten, weil die wenigen nicht verletzten Heizer vor Entsetzen völlig versagten. Niemand dachte daran, daß zu allen Qualen und aller Not im Zwischendeck, zu der Seekrankheit, dem schmerzhaften Herumgeworfenwerden mit dem plötzlichen Erlöschen des Lichtes nun das Grauen kam. Eine furchtbare Panik brach aus unter den Passagieren. In dem irrsinnigen Trieb, dem Raum des Schreckens zu entfliehen, hoben die Tollgewordenen einige Lukendeckel vom unteren Laderaum ab. Neun Meter tief gähnte der leere Bauch des Schiffes. Gierig schlang er die Opfer, die in dem entfesselten Toben aus dem Zwischendeck zu ihm in dieTiefe stürzten!
Die Nacht ist vorüber. Vorbei der Taifun. Sonnenschein lacht vom Himmel. Kein Wölkchen trübt das klare Blau, glatte See atmet ruhig mit langer Düuung. Die Flagge sinkt auf halbmast. Die Maschine stoppt. Fünfundzwanzig Leichen übergeben wir dem chinesischen Meer! Die Luft ist erfüllt von wirbelnden, tanzenden Papierblättchen, Briefe, den toten Chinesen von ihren Landsleuten zur Fahrt ins Jenseits mitgegeben. Schon quirlt wieder das Schraubenwasser empor und die Arbeit ruft. Die Flagge steigt, flattert lebensbejahend im Winde. Ich halte immer noch die Mütze in der Hand und schaue dorthin, wo sich im wirbelnden Kielwasser die See über denen geschlossen hat, die von uns gegangen sind.
Transkriptende. Buchrettung am 21.01.2025
Dieser kleine Artikel stammt aus dem Köhlers Flottenkalender Jahrgang 1936. Er beschreibt den winterlichen Alltag auf den Nordseeinseln; besonders im Hinblick auf die als Seebäder bekannten Inseln vor den deutschen Küsten.* Transkript aus Köhlers Flottenkalender 1936, ab S.85 bis 88
Was treiben die Insulaner im Winter?
Von Cornelius Scharphuis, Borkum
Es ist nicht etwa die derbe Lust, alles zu kritisieren, auch nicht gar der Drang es möglichst auszuposaunen, der mich trieb einmal der Frage nach der Winter-Beschäftigung unserer Inselbewohner nachzugehen, es ist vielmehr das Bedürfnis den sommerlichen Gästen unserer Nordseeinseln ein Bild zu geben von dem unermüdlichen Schaffen und Streben der Inselbewohner und sie von dem Wert des im Sommer Gebotenen und der Berechtigung der sich daraus ergebenden Forderungen zu überzeugen.
,,Na, denn man tau“, rufe ich allen Neugierigen zu, die während des Sommers bald hier und bald da an einen herantreten mit der Frage: „Ja, aber sagen Sie mal, was machen Sie eigentlich den ganzen lieben Winter? Ich denke mir das schauderhaft. Sie liegen wohl den ganzen Tag zu Bett?“ Ja, das klingt doch ungefähr so, als wenn die Wörtchen Arbeit und Winter überhaupt aus dem Wörterverzeichnis der Inselbewohner gestrichen wäre! Deshalb wird der Gefragte im ersten Augenblick ein wenig geistreiches Gesicht machen ob solcher Frage und dann eine ungenügende und wenig befriedigende Antwor geben.
Ein Witzbold sagt wohl sogar einmal in trockenem Tone: „Was wir machen? Nun, wir lassen uns einen Vollbart stehen.“ Oder ähnliche geistreiche Antworten, so daß der Fragesteller dann genau so klug ist wie vorher. Diese Neugierde will ich nun, zumal sie nicht so unberechtigt ist, nach bestem Vermögen befriedigen. Kaum einer von denen, die zur schönen Sommerzeit den starken Fremdenverkehr auf unseren Nordsee-Inseln beobachtet haben kann sich vorstellen, wie die vom bunten Gewühl der Gäste durchfluteten Inseldörfer nach den Ferienmonaten dastehen, leer und ausgestorben.
Doch wie schon dieser Gedanke auf den nachdenkenden Fremdling einen eigentümlichen und beinahe schauerlichen Eindruck macht, umsomehr befällt es auch den Insulaner selbst, wenn nach Schluß der Saison ein Kurgast nach dem andern den Koffer packt und die Sommerladenmieter, die sogenannten Budenleute oder Einjahrsfliegen (weil sie oft schon im nächsten Jahre nicht wiederkommen) ihre Geschäfte schließen. Still und stiller wird es auf der Insel, und wenn gegen Ende September auch das Personal zum größeren Teil wieder zum Festland gewandert ist, dann fängt für den Insulaner schon der eigentliche Winter an. Dann ist er, zumal bei den unregelmässigeren und selteneren Verbindungen mit dem Festland, und erst recht, wenn eine solche bei ungünstiger Witterung überhaupt unmöglich wird, sozusagen von der Außenwelt abgeschnitten und nur auf sich selbst angewiesen.
Um diese Zeit, wenn die ersten Stürme wieder über die Eilande dahinbrausen und das wogende Meer gegen Dünen und Steindämme brandet, in dieser Zeit, wo an schönen Herbsttagen strahlende Sonne auf Dünen und Meer herniederleuchtet und die ganze Natur Ruhe atmet, dann beginnt der Inselbewohner sich wieder auf sich zu besinnen. Nach den vielen Leckerbissen der Saison sehnt sich jeder wieder nach einem deftigen Pottessen; all der während der Saison angelegte formelle Zwang fliegt über Bord und zu Tage kommt die urfriesische Natur der meisten Inselbewohner, die in der gemütlich-derben Art ihrer plattdeutschen Muttersprache alles gerade heraussagt und selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Tagsüber während der Arbeitszeit werden nicht viele Worte verloren, so daß der Insulaner von vielen Festländern für unfreundlich und sogar unhöflich gehalten wird. Dies muß jedoch, wenigstens in dieser Verallgemeinerung als Irrtum zurückgewiesen werden, und jeder genauere Kenner der Verhältnisse wird bestätigen können daß bei den Insulanern, wie überhaupt beim Friesenvolk, ein kurzer Gruß oder ein Kopfnicken oft viel mehr Freundlichkeit und Achtung ausdrücken als ein umschweifiges Begrüßen und Hutabnehmen bei manchem Binnenländer. Doch auch die Menge der zu erledigenden Arbeiten läßt den fleißigen Leuten keine Zeit zu langen Gesprächen und für Zeitvergeudung. Dafür sind die langen Abende da, die mit geselliger Unterhaltung im Familienkreise ausgefüllt werden und so leicht keine Langeweile aufkommen lassen. Gefördert wird die Geselligkeit noch durch die infolge der starken gegenseitigen Verschwägerung bestehenden ausgedehnten Verwandtschaften, da sich ein jeder verpflichtet fühlt, den andern gelegentlich zu besuchen oder einzuladen.
Ist der Inselbewohner auch schwer für allgemeine Angelegenheiten zu begeistern, so ist er umso mehr auf die Neugestaltung und Verbesserung des eigenen Betriebes bedacht. Was sich im letzten Sommer als unpraktisch oder unzweckmäßig erwiesen hat, wird nach bestem Können umgeändert und verbessert, und auch sonst wird keine Ausgabe gescheut um das Haus rentabler und für die Gäste bequemer zu gestalten. Kurz und gut, das ganze Denken und Trachten stellt sich schon auf die kommende Saison ein, wenn die letzte erst kaum vorüber ist.
Es gibt viele Festländer die den Insulaner um sein sorgenfreies Leben im Winter beneiden, sie ahnen nicht welch ein sorgenreiches Leben auf den Inseln gerade zur Winterszeit herrscht. Ganz gleich ob die Saison gut oder schlecht war, immer drängt sich wieder die bange Frage auf, wie sich die nächste gestalten wird.
Auf alle Fälle muß mit dem erübrigten Gelde so disponiert werden, daß man nicht aufs Trockene gerät. Besonders schwierig ist es für die Einwohner unserer Nordseebäder die lediglich auf den Verdienst der 8 bis10 Wochen im Jahr angewiesen sind. Von ihrem in saurer Arbeit erkämpften Gelde müssen sie bis zur nächsten Saison auskommen, d. h. einmal sich und ihre Familie ernähren, ferner ihre Häuser in Stand halten und endlich noch ihre Steuern bezahlen. Die vielen wirtschaftlichen Nöte und geschäftlichen Sorgen beeinträchtigen jedoch nicht das Bedürfnis nach gelegentlicher Ablenkung. Daher erklärt sich auch das ausgeprägte Vereinswesen auf unseren Inseln, dass die Geselligkeit während der Wintermonate sehr pflegt.
Im eigentlichen Winter bildet die Jagd auf Hasen, Kaninchen und fliegendes Getier eine beliebte Beschäftigung der Einheimischen, wobei sie teils als rechtmäßige Jäger, teils als ,,Kanintjegravers“ wie die Wilderer, die es hier und da geben soll, genannt werden, dem edlen Waidwerk huldigen Bei stürmischem Wetter ziehen viele an den Strand, um nach urväterweise die vom Meer angeschwemmten Schätze zu bergen. Der Sturm verlangt aber auch bei gewissen Gelegenheiten Aufopferung und Selbstlosigkeit dem Nächsten gegenüber; so bei Feuer- und Wassernot, oder wenn arme Seeleute in Sturm und Wellen aufs Riff getrieben werden und Hilfe erbitten. In solchen Fällen werden sich alle mehr denn je ihrer Schicksalsgemeinschaft bewusst und mit zäher Ausdauer, die eine Haupttugend der Friesen ist, wird unter Hintansetzung des eigenen Lebens der Kampf gegen die Elemente aufgenommen. Doch auch zu frisch-fröhlichem Sport bietet der Winter in reichem Maße Gelegenheit. Da ist vor allem das in ganz Friesland bekannte und beliebte „Klootschießen“, das aber frostiges Wetter und steinhart gefrorenen Boden erfordert. Dabei wird eine schwere mit Blei ausgegossene Holzkugel von zwei Parteien auf einer mehrere Kilometer langen Bahn mit kräftigem Schwunge über den Boden geworfen. Dabei geht es reihum, und diejenige Partei ist Sieger, der es zuerst gelingt, ihre Kugel durchs Ziel zu schleudern.
Andere wieder vergnügen sich auf den zwischen den Dünen gelegenen Wasserdellen mit Schlittschuhlaufen, entweder paarweise oder in „Steertjes“, langen, hintereinander gekoppelten Ketten von Schlittschuhläufern. Am Ende der Bahn hält einer den vorderen Läufer fest und die ganze Schar schwenkt in sausendem Bogen herum, wobei viele unfreiwilligerweise die Bahn fegen müssen, das heißt zu Fall kommen. Auch die mit Schnee bedeckten Dünen, die wie fernes Hochgebirge im Sonnenlichte glänzen, bieten dem jungen Volk ein erstklassiges Gelände zum Schlittenfahren.
Für die Hausfrau gibt es im Winter Arbeit in Fülle. Da stehen noch die großen Schränke voll Gardinen und Bettwäsche, die in der Saison nicht unerheblich leiden und deshalb nachgesehen werden müssen; da sind die lieben Familienangehörigen, die dringend warme Wintersachen benötigen. Auch der Haushalt muß wahrgenommen werden, all die Wäsche gewaschen werden und noch so vieles mehr; also von Arbeitsmangel keine Spur! Doch auch in ihrer Mussezeit ist die Hausfrau keineswegs untätig, sondern beschäftigt mit Stricken und sonstigen Handarbeiten für die Ihren. An gewissen Abenden der Woche kommen auch wohl Geschwister und sonstige gute Bekannte zu einem Tee- oder Kränzchen-Abend zusammen, wo bei einem guten „Koppke Tee mit einem dicken Kluntje“ allerhand Neuigkeiten erörtert und besprochen werden. Der Tee ist besonders das ostfriesische Nationalgetränk und wird mit einem Löffel „Rohm“ (Sahne) und einem ,,Kluntje“ (Kandis) in „Koppkes“ (dünnen Porzellantassen) serviert.
Der tägliche Besorgungsgang führt gegen Abend in die gewohnten Läden, wo dann meist noch ein bißchen geklönt und der übliche Dorfklatsch vorgenommen wird, und nach dem Abendbrot, wenn zufällig kein Besuch anwesend oder zu erwarten ist, geht es früh in die Koje (Bett), und nur der Wind singt sein eintöniges Lied dazu.
So geht der Winter unter Ernst und Scherz wie im Fluge dahin und bald kündet auch das Keimen und Sprossen in der Natur dem Inselbewohner den Wiederbeginn seiner sommerlichen Tätigkeit an. Zum sogenannten ,,Großreinemachen“, das in jedem Frühjahr stattfindet, trifft schon wieder viel Personal vom Festland ein, so das in kürzester Zeit wieder ein geschäftiges Leben und Treiben allerorts herrscht. Da wird geschrubbt und gelüftet, Betten werden geklopft, die Häuser von außen und innen gestrichen und lackiert, wobei man auch viele Frauen mit Farbtopf und Pinsel sieht. Zuletzt werden auch noch die Straßen gereinigt und schon die ersten Gäste können mit Befriedigung feststellen, daß die Insel in alter Frische bereit ist zu neuen Augen.
Transkriptende. Buchrettung
Für heute habe ich mir vorgenommen mit dem Transkript aus Köhler´s Flottenkalender von 1935, über den holländischen Admiral de Ruyter, fortzufahren. Mit Fertigstellung kommt es hier herein. Jetzt ist es Abend und hier ist das lesenswerte Transkript.
Transkript aus Köhlers Flottenkalender 1936
Ab S.65 bis 75
Michiel de Ruyter
A. von Czibulka
In dem Jahre, in dem das Grauen des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) über Deutschland hereinbrach, begann die Seemannslaufbahn eines Mannes, der ohne Zweifel der größte Seeheld aller Zeiten war, dessen Größe keiner jener berühmten holländischen Kapitäne seiner Tage erreichte, und deren sich auch seine geistigen Nachfahren, Nelson, Faragut und Tegethoff nicht rühmen können.
Michiel Adriaanszoon de Ruyter war ein Knabe von elf Jahren, als ihn die Armut seiner Eltern und wie er später zu erzählen pflegte, wohl auch seine losen Streiche zur See trieben. Von seinem Großvater, mütterlicher Seite her, der unter Wilhelm von Oranien Reitersmann gewesen war, brauste Reiterblut in seinen Adern. Sein Vater diente, nachdem er lange Jahre als Matrose zur See gefahren, als Brauknecht in Vlissingen. Nachdem ihn die Reederei der Gebrüder Lampson, bei der er in Vlissingen gewesen war, wegen seiner dummen Streiche davongejagt hatte, betrat er, 11 Jahre alt, als Schiffsjunge zum ersten Mal ein Schiff. Mit 15 Jahren war der zukünftige Herzog und Leutnant-Admiral der Generalstaaten Matrose, kämpfte bald darauf im Landheer des Prinzen von Oranien gegen die Spanier, heuerte dann auf ein holländisches Kriegsschiff und trat hernachin die Reederei Lampson ein, die den jungen Matrosen, der sich nun schon einer Art Popularität und Berühmtheit erfreute, gerne von neuem in ihre Dienst nahm. Vierundzwanzigjährig wurde er Steuermann. Diente bei Fahrten ins Eismeer, die ihn bis Grönland führten, sah die Magallan-Länder und bewährte seinen beispiellosen Mut und sein sprichwörtliches Glück in einem furchtbaren Orkan vor Kap Horn. Später fuhr er als Kaperkapitän Vlissinger Handelsherren gegen Dünkirchener Kaperschiffe, eine Tätigkeit, die seinem gutmütigen, fast weichen Soldatenherzen wenig behagte. 22 Jahre war er zur See gefahren, als er Kapitän eines Kauffahrteischiffes der Gebrüder Lampson wurde, dass er nach Brasilien und in die westindische Inselwelt führte. Die Muße, die ihm sein Beruf als Handelskapitän ließ, der damals zugleich der eines Handelsagenten und Verkäufers war, benutzte sein reger Geist, der sich in eifrigem Selbststudium gebildet hatte, dazu, die gänzlich falschen Karten der überseeischen Gewässer zu berichtigen. So wies er nach, daß die karibischen Inseln in Wirklichkeit um 120 Seemeilen östlicher lagen, als die damaligen Seekarten sie verzeichneten.
Es entzieht sich unserer Kenntnis, ob sein Name in dem Vierteljahrhundert, während dessen er zur See gefahren, bereits einen so guten Klang bekommen hatte, oder ob seine kartographische und nautische Tätigkeit die Ursache war, daß er schon in frühen Mannesjahren zum Schout-bij-nacht (Konteradmiral) in jener Flotte des Admirals Gysel ernannt wurde, die, als der Herzog von Braganza sich zum König von Portugal gemacht und diesen alten Seestaat von der spanischen Herrschaft befreit hatte, gegen Spanien auslief. Bei dieser ungliicklichen und von Mißgeschick verfolgten Unternehmung war es allein de Ruyter, der die holländische Flotte vor der Vernichtung bewahrte. In der Schlacht von St. Vincent war er der tapferste, beste unter jenen wenigen holländischen Kapitänen, die ihre Schuldigkeit taten. Überall, wo durch die Tapferkeit der Spanier oder die Feigheit der Mehrzahl der niederländischen Schiffsführer Unheil drohte, war sein Flaggschiff „der Hase“, zu sehen.
Zweimal mußte er, von der Übermacht zerschossen, schwer havariert aus der Linie scheren und sein Schiff nach einer Seite überlegen, um die Kugellöcher zu stopfen, die ihm der Feind unter seiner Wasserlinie beigebracht hatte. Mit dem Ende dieses Seezuges nahm Ruyter seine Entlassung aus dem Kriegsdienst und fuhr wieder als einfacher Handelskapitän nach Westindien, Nordamerika und ins Mittelmeer. In allerlei Affären - es ist die Zeit der Flibustier, der ,,lustige Roger“, die schwarze Flagge mit Totenkopf und Stundenglas, wehte unbekümmert über die westindische See, und die afrikanischen Küsten wimmelten von algerischen Korsaren, gab er Proben seines Mutes und seiner Klugheit. Als er einmal auf seinem Heimwege von Irland hörte, daß sein Kurs von Dünkirchner Kapern wimmele, war er es allein unter einer ansehnlichen Flotte von Kauffahrern, der trotzdem die Heimkehr wagte. Mit seinem kleinen Schiff von zehn Kanonen segelte er mitten hinein in die gefährdeten Gewässer. Nur eines hatte er getan: er hatte verdorbene Butter gekauft, mit der er Deck und Bordwände seines Schiffes bestreichen ließ. Als es dann beim Angriffe eines Dünkirchners zum Entern kam, glitten die Angreifer an den fettigen Bordplanken aus und wurden mühelos und blutig abgeschlagen.
Wieder bewährte sich in diesen zwölf Jahren, während deren er als Kapitän ungezählte Fahrten über die holländischen Handelswege unternahm, sein unerhörtes Glück, das ihn bis zu dem Tage nicht verließ, an dem ihn
seine Todeswunde erreichte. Dreimal in diesen zwölf Jahren ist sein Schiff das einzige, das einmal unter 26, ein anderes Mal unter 17 und ein drittes Mal unter 6 Schiffen dem Untergange in rasenden Stürmen entgeht. Als er von diesen abenteuervo1len Fahrten heimkehrt, ruft ihn sein Schicksal. Die Seekriege zwischen England und Holland begannen. Das kleine Holland - wenig mehr als eine Million Einwohner zählend - hatte sich zu einer Seemacht und zu einem Kolonialreich ersten Ranges aufgeschwungen. 35000 holIändische Kauffahrteischiffe
standen damals in Dienst! Glänzende Admirale führten in jenen Jahren, in denen Holland Seesiege erfocht, gegen die sogar Nelsons Schlachten blasser strahlen, die niederländischen Flotten. Der größte, glücklichste unter ihnen, ist Michiel de Ruyter. Als der große Admiral Tromp durch Sturm und Mißgeschick in den ersten Wochen des ersten Seekrieges gegen England unglücklich focht, die ungerechte Wut des Volkes sich gegen ihn wandte, ernannten die Generalstaaten, der Stimme des Landes folgend, Ruyter zum Befehlshaber eines Geschwaders von 36 Fahrzeugen, mit dem Auftrage einen Konvoi von 60 Kauffahrteischiffen durch den englischen Kanal zu führen. Klein und wenig seetüchtig, schwach bestückt und vernachlässigt waren damals im Gegensatze zu Hollands Handelsflotte seine Kriegsgeschwader, für die die Regierung in unbegreiflicher Verblendung bisher
nichts Nennenswertes getan hatte. So war es dem Willen und dem Geist dieses einen Mannes vorbehalten, nicht nur in glänzenden Schlachten zu schlagen, sondern mitten im Drange und den Sorgen höchster Not das Werkzeug zu seinen Siegen zu schmieden. In den ersten Tagen des August 1652 hißte er seine Flagge auf dem Neptun, einem Schiff von 28 Kanonen - die Engländer hatten allein unter 40 Fahrzeugen 14 Schiffe mit je 50 bis 60 Kanonen. Bei Plymouth, wo ihm die Briten den Weg verlegen, schlägt de Ruyter seine erste Schlacht. Um vier Uhr nachmittags am 26. August 1652 rennt er an der Spitze seiner Flotte, die er in drei Geschwader geteilt hatte, von denen ein jedes den dritten Teil der schwerfälligen Kauffahrer zu schützen hatte, in die englische
Flotte. Feige von vielen seiner Kapitäne verlassen – ein Schauspiel das sich bei fast allen Seeschlachten auf der einen oder andern Seite wiederholt - sah er sich bald mit sieben tapferen Schiffen mitten unter 40 hochbordigen, furchtbar bestückten Engländern. Die Stengen und Rahen brechen, seine Masten stürzen, zerfetzte Segel flattern, und bald ist der Neptun kaum mehr als ein Wrack. Aber de Ruyters beispielloser, unerhörter Mut, seine Kühnheit und Manövrierkunst und das Geschick und der Opfermut der wenigen brav gebliebenen holländischen Kapitäne wenden das Schlachtenglück, und bei einbrechender Dunkelheit lösen sich die britischen Geschwader von den holländischen Schiffen, unverfolgt von dem zusammengeschossenen schwer havarierten Feind. Die dreiunddreißig Schlachten, die Ruyter als Geschwaderführer unter berühmten Admirälen und Kapitänen, oder als Oberbefehlshaber geschlagen, in denen seine Flagge stets über dem wildesten Getümmel wehte, immer bedroht, niemals entscheidend besiegt, zu erzählen, hieße die Geschichte jener gewaltigen Seekriege schreiben, die von 1652 bis zum Frieden von Nymwegen ein Vierteljahrhundert lang - in allen europäischen Meeren tobten. Nur seine größten Kämpfe, vor allem die viertägige Seeschlacht von Nordforeland können hier in großen Zügen geschildert werden.
Wenige Wochen nach dem für Holland unglücklichen Waffengang am 13. Juni 1665, in dem der tollkühne Admiral Wassenaar mit seinem Admiralschiff in die Luft geflogen war, und nach welchem Unglück der große holländische Staatsmann, der Ratspensionär de Witt, in acht Wochen eine Flotte von 94 Schiffen beinahe wie durch Zauber geschaffen hatte, ging die Kunde durchs Land, daß de Ruyter mit seinem kleinen Geschwader und fünf erbeuteten Engländern von Guinea kommend, und mitten durch die siegreiche englische Flotte segelnd, in schwerem Nordweststurm bei Delfzyl ohne Seezeichen und Lotsen in die Ems eingelaufen sei. Noch am gleichen Tage, an dem sich in hunderten von Booten neugierig das Volk um das Flaggschiff de Ruyters drängte, ernannten ihn die Generalstaaten zum Admiral über die neue Flotte, die unter dem jüngeren Tromp bereits in See gegangen war. Wenige Tage später stieß er zu den Geschwadern und übernahm am 18. August 1665 den Oberbefehl. Seine Aufgabe war, mit der aus 94 Kriegsschiffen, 12 Brandern und einigen Avisos bestehenden Macht, die Engländer aufzusuchen, die, nachdem sie die heransegelnde holländisch-ostindische Kauffahrteiflotte gezwungen hatten, in Bergen Zuflucht zu suchen, sich am Rückmarsch nach England befanden. Da die britischen Geschwader ihm für diesmal entkamen, ein schwerer Orkan seine Flotte und den aus Bergen befreiten Konvoi zersprengte und schwer havarierte, überdies eine Seuche auf der Flotte ausgebrochen war, kam es in diesem Jahre zu keinem nennenswerten Kampfe und de Ruyter fuhr, nachdem er noch als Erster Flottenmanöver mit Gegenseitigkeit ausgeführt, Geist und Disziplin der Besatzungen in unbarmherziger Arbeit gehoben hatte, in die Heimat zurück. Den Winter über wurde unter seiner Aufsicht eifrig an der Vervollkommnung und dem Ausbau der Flotte gearbeitet, so daß im April des folgenden Jahres 1666 eine Schiffsmacht von 130 Seglern in Dienst ge-
stellt werden konnte, wovon 70 Kriegsschiffe 40 bis 80 Kanonen führten. Zwölf Linienschiffe lagen überdies noch halb fertig auf den Werften. Die Besatzung zählte 22000 Mann. Während April und Mai sammelten sich die Geschwader hinter der Insel Texel, am Eingang des Zuidersees, und am 10. Juni 1666 segelte die Flotte, geführt von de Ruyters Flaggschiff „Die Sieben Provinzen“, einem Linienschiff von 80 Kanonen, Kurs nach der englischen Küste. Als die Felsen von England aus der weißen Gischt der schweren See aufstiegen, versammelte Ruyter die Admiräle van Nees, Cornelius Tromp, de Vries, Evertzen und die Führer der Divisionen an Bord der ,,Sieben Provinzen“, um ihnen die letzten Befehle zu geben und Ermahnungen an sie zu richten. Damals war es, daß de Ruyter jene Worte sprach, die ein viertel Jahrtausend später der japanische Admiral Togo als letztes Signal vor dem Beginn der Schlacht von Tsuschima zeigte: „Das Schicksal des Reiches hängt an dem Ausgange der bevorstehenden Schlacht!“ Am Morgen des 11. Juni 1666 ging das Geschwader in einem steifen Südwest am Eingange des Kanals vor Anker. Bald darauf signalisierten die unter Sturmsegeln heranfliegenden Avisos die englische Flotte. Ihre Zahl war der der Holländer fast gleich. Aber ihre Schiffe waren um vieles mächtiger und stärker bestückt. Signale flattern von den Toppen der ,,Sieben Provinzen“, die Holländer gehen in der schweren, hohen See unter Segel, die Ankertaue werden gekappt und in geschlossener Ordnung kreuzt die Flotte, schwer gegen den Sturm ankämpfend, den Engländern entgegen. Um 1 Uhr Mittag fällt der erste Kanonenschuß dieser viertägigen Riesenschlacht und wenige Augenblicke später brüllt der Donner von fast 10 000 Geschützen über die tobende See. In dem schweren Sturme rollen die britischen Linienschiffe so stark, daß die unteren Kanonen kaum zum Feuern kommen. Nach dreistündigem Kampfe bohrt eine Breitseite der ,,Sieben Provinzen“ einen vorbeisegelnden großen Engländer in den Grund. Am späten Nachmittage, als die Engländer eben gegen Nordwesten wenden, um von den flämischen Sandbänken abzuhalten, werden drei ihrer Linienschiffe von der holländischen Nachhut geentert. Aber auch die Admirale Tromp und van Nees müssen ihre wracken, manövrier-unfähigen Schiffe verlassen und ihre Flagge auf andern Fahrzeugen setzen. Zwei holländische Schiffe gehen in Flammen auf. Noch bei einbrechender Nacht versenken die ,,Sieben Provinzen“ ein großes englisches Schiff von 70 Kanonen, das auf Pistolenschußweite vor ihnen passiert, während ein anderes, größeres, das Flaggschiff eines
englischen Geschwaderführers, zugleich mit mehreren andern von de Ruyters Schiff und drei Brandern bedrängt, mit knapper Not im Schutze der Dunkelheit entkommt Der letzte Schuß, den die Engländer den verfolgenden Holländern entgegensenden, tötet den hoIländischen Admiral Evertzen. In der hereinbrechenden Nacht schweigt das Feuer der Geschütze die riesenhaften Fackeln brennender Schiffe leuchten über die noch leise dünende See.
Kaum 50 Schiffe von den 81, mit denen die Engländer die Holländerzur Schlacht gestellt hatten, nehmen am frühen Vormittage den Kampf mit Ruyter wieder auf, der 20 seiner am schwersten beschädigten Schiffe in die Heimat schicken mußte. Über die nun ruhige See gleiten die beiden Flotten auf kaum eine Kabellänge aneinander vorüber. Der Eisenhagel der Breitseiten, die feurigen Bogen der glühenden Kugeln heulen über das Meer. Das Splittern der Bordwände, das Stürzen der Masten übertönt das Brüllen der Schlacht. Die Kettenkugeln fegen über die Decks. Endlich, nach stundenlangem Kanonieren, gelingt es Ruyters Manövrierkunst und der Schulung seines Geschwaders den Engländern den Wind abzugewinnen und an sie heranzukommen. Die Entermannschaften treten an, das Flaggensignal, das denBefehl zum Entern geben soll, liegt bereit, da sieht de Ruyter, wie sich weit hinter der englischen Linie das Flaggschiff Admiral Tromps mit sechs anderen Schiffen, denen die rote Glut aus den Stückpforten bricht, sich gegen das ganze englische Mittelgeschwader wehrt. Wieder rächt sich Tromps unerhörter, doch wenig besonnener Mut. Der Wind ist umgesprungen, und wie ein Reiterangriff über weite Heiden, brausen die ,,Sieben Provinzen“, gefolgt von einem Teil des niederländischen Zentrums, gegen die englischen Schiffe. Die ungestüme Wucht des Ansturms, die Vernichtung, die die holländischen Breitseiten den Engländern entgegenschleudern, öffnen de Ruyter eine Gasse, durch die er, aus allen Kanonen feuernd, seine Schar mit unheimlicher Wucht mitten durch die englische Flotte führt und dem verzweifelt kämpfenden Tromp und seinen zerschossenen, sinkenden Schiffen, den Weg nach der Heimat freimacht. Vergebens rufen die Signale des englischen Oberbefehlshabers Admiral Monk, alle Schiffe zum Kampfe gegen die kleine verwegene Gruppe der Holländer, vergebens fallen die riesenhaften, hochbordigen Linienschiffe der Engländer über de Ruyter her. Er bleibt Herr der Schlacht und wahrt sich das Gesetz. Mitten im wütendsten Kampfe wendet er plötzlich dem Gros seiner Flotte entgegen, um mit ihm vereint von neuem den Feind anzugreifen Als der Abend sich über die Walstatt senkt, sind sieben Engländer mit wehender Flagge gesunken, aber kein einziger Holländer. Da gellt plötzlich wildes Jubelgeschrei der Engländer aus dem Brüllen der Schlacht: Ruyters Flagge ist niedergeholt! Langsam scheren die ,,Sieben Provinzen“ aus der holländischen Linie. Aber schon nach wenigen Minuten steigt die niederländische Admiralsflagge auf dem Flaggschiff van Nees’, der die Flotte zum vierten Male gegen die Engländer führt. Die ,,Sieben Provinzen“, die schwer havariert die Linie verlassen mußten und deren Großstenge mit de Ruyters Flagge auf Deck gestürzt ist, bessern ihre Schäden aus, während Ruyter seine Flagge dem Admiral van Nees mit dem Befehle iibersendet, sie auf seinem Schiffe zu hissen und bis zur Instandsetzung der ,,Sieben Provinzen“ den Oberbefehl zu führen. Zweimal führt van Nees die holländische Flotte an den Briten vorbei; als er zum dritten Male auf Gegenkurs geht, fliehen die Engländer, nur noch 38 Segel stark, denen die 59 holländischen vorerst an der Klinge bleiben. Der britische Oberbefehlshaber Monk mochte auf jenes Geschwader von 25 Linienschiffen hoffen, dass er der damals mit Holland verbündeten französischen Flotte entgegengesandt hatte. So zieht er sich in der Nacht in voller Ordnung gegen die Themsemündung; nur langsam von den Holländern verfolgt, denen eine plötzlich einsetzende Flaute den Wind aus den Segeln nahm. Als am nächsten Morgen der Pfingsttag des Jahres 1666 aus kaum bewegter See steigt, und der Wind raumt, kommen die Holländer langsam der englischen Flotte auf, die noch immer Kurs gegen die Themse hält. Der Vormittag und die ersten Nachmittagsstunden vergehen ohne Kampf. Drüben am Horizont die weichenden Engländer, denen die raschen Fregatten und Avisos der Holländer dicht auf, wenn auch außer Kanonenschußweite, folgen, hier die langsam gegen Süden gleitenden Segel der holländischen Linienschiffe. Da weht plötzlich ein Signal vom Topp des englischen Admiralschiffes und langsam wendet die britische Flotte gegen Westen. Wie ein Flug weißer Vögel steigen die Segel jenes britischen Geschwaders über die Kimm, dass nun, da es die Franzosen vergeblich gesucht, dem englischen Gros zu Hilfe eilt. Sogleich laßt Ruyter eine Abteilung seiner Flotte Kurs gegen den neuen Feind nehmen, um seine Vereinigung mit der britischen Hauptmacht zu vereiteln. Es ist vergebens, nur langsam treibt die schwache Brise das holländische Geschwader gegen Südwest und am Abend vereinigen sich vor den Augen und fast auf Schußweite der Holländer die neuen, noch durch keinen Kampf geschwächten großen Linienschiffe mit der englischen Flotte, die nun wieder 63 Schiffe zählt. Als das Signal des englischen Admirals das Wenden der Flotte befohlen hatte, war das größte und schönste Schiff der Engländer „Prince Royal“, mit seinen 92 Kanonen und 625 Mann, ein wahrer Dreadnought seiner Tage, auf ein Riff aufgefahren. Verzweifelt rufen seine Flaggen die englischen Schiffe, die noch immer dem heransegelnden Entsatze entgegenfliehen, um Hilfe. Die Gefährten sehen sie nicht oder, noch ist es nicht Nelsons Flotte, wollen sie nicht sehen. Schon gleiten die ersten holländischen Brander heran, um das todgeweihte Schiff zu vernichten, da streicht der Admiral Ascue, das Nutzlose jeder Gegenwehr verstehend und dennoch in unbegreiflichem Entschlusse, die Flagge. Während er seinen Degen an de Ruyter übergibt, schlägt das Feuer, das die holländischen Brander gelegt, aus den Stückpforten des flaggenlosen Schiffes, und wenige Augenblicke später fliegt mit einem donnernden Schlag in einer berghohen Feuersäule der „Prince Royal“ in die Wolken. Um die gleiche Zeit lodern Flammen in der Nachhut der Briten: Monk hat zwei seiner sinkenden Schiffe, die er mit sich geschleppt, vernichtet. Wieder bricht die Nacht herein; die Engländer haben an diesem Tage ohne Schuß drei Schiffe verloren, und als der vierte Morgen dieser Schlacht die Gegner von neuem einander entgegenführt stehen 60 englische gegen 59 holländische Schiffe. Zwischen den flämischen Bänken und der Landzunge von Nordforeland geht das furchtbare Spiel zu Ende. Mit drei Geschwadern bricht Ruyter um die neunte Morgenstunde durch die englische Schlachtfront, Einzelgefechte da und dort. Die Rahen feindlicher Schiffe berühren einander, so daß die Kanoniere, wie 200 Jahre päter bei Lissa, die Setzer nicht handhaben können. So nahe kämpfen die Schiffe. Zweimal noch stürmt Ruyter durch die englischen Linien. Beim dritten Male schießen Flammen aus dreien seiner Schiffe. Zwei vermögen zu löschen, das dritte fliegt in die Luft. Bis zum Abend ist nirgends ein Vorteil, und nirgends der Sieg. Aber de Ruyter will die Entscheidung, denn ein fünfter Tag dieses Grauens erscheint ihm unmöglich. Wieder wehen die Signale von Schiff zu Schiff. Mit seinem eisernen Willen wirft er noch einmal seine ganze Flotte gegen den Feind. Wieder donnern die vielen tausend Geschütze in den zu Ende gehenden Tag. In Grund geschossene Engländer versinken ins Meer. Mit tosendem Krachen rennt die holländische Flotte Bord an Bord an die englischen Linienfchiffe. Ein Signal klettert über die Flaggleinen der „Sieben Provinzen“, Musketen hämmern in das dröhnende Singen der Stücke, die Enterbrücken fliegen gegen den Feind, und wie über die Wälle einer sturmreifen Festung, ergießen sich die holländischen Entermannschaften über die Bordwände der britischen Schiffe. Da befiehlt Monk den Rückzug. Erst lösen sich die Briten in geschlossener Ordnung vom Feind; doch dann fliehen sie, zerschlagen, in panischen Schrecken. Die Dunkelheit und der plötzlich einfallende Nebel machen der holländischen Jagd ein Ende und zugleich dieser Schlacht, in der die Engländer 23 Schiffe verloren, gegen vier, die die Holländer ließen. Mit sechs Prisen und 3000 Gefangenen kehrt Ruyter am 14. Juni 1666 in die Heimat zurück.
Im Sommer des folgenden Jahres 1667 vollführte er jenen unerhört kühnen Einbruch in die Themse, bei dem er mit seiner ganzen Flotte durch die schmale, durch versenkte Schiffe noch verengte Fahrrinne an den Landbatterien vorbei, die Themse hinauf, bis zu dem befestigten Chatham segelte, acht große Linienschiffe und zwölf Fregatten vernichtete und die Landbatterien erstürmte. Dann ging er wieder zur Mündung zurück, ankerte dort und blockierte mit drei anderen Geschwadern die englischen Küsten. Überall, wohin die holländischen Schiffe jener Tage kamen, flohen die Bewohner in panischem Schrecken und fanden dennoch, nach dem Abzuge der Holländer heimgekehrt, niemals irgendwelche Spuren einer Plünderung oder eines Raubes. An der Themsemündung überbrachte ihm am 8. August 1667 ein englisches Parlamentärboot die Nachricht vom Abschluß des Friedens.
Nach vier Jahren des Friedens, die de Ruyter in stiller Zurückgezogenheit im Kreise seiner Familie verbrachte, nach jenen Jahren, die den Niederländern eine kurze Zeit märchenhafter Blüte brachten, während deren die Flagge, die in unerhörten Schlachten geflattert hatte, nun von den Masten vieler tausend friedlicher Kauffahrteischiffe über alle Meere wehte, rief ihn das Schicksal Hollands in den ersten Tagen des Jahres 1772 zum andern Male aus seinen stillen Kreisen. Das war, als Ludwig XIV. mitten im Frieden Holland mit 200000 Mann französischer Soldateska überfiel und die Engländer ohne Kriegserklärung eine holländische Kauffahrteiflotte von 72 Schiffen bei der Insel Wight zu nehmen versucht hatten. Zwischen Wielingen und der Maas erwartete de Ruyter die alliierte Flotte der Briten und Franzosen. Wohl zeigen sich die Segel der Feinde am Horizonte, ziehen sich aber langsam wieder gegen Westen. Da kreuzt de Ruyter gegen Südwesten auf, bis in Sicht der englischen Küste. In der Solesbai kommt es am 7. Juni 1772 zur Schlacht, bei der die Holländer die alliierte Flotte vor Anker finden. Wie alle Waffengänge, die Holland dieses Jahr auf dem Meere zu bestehen hatte, endet sie siegreich für de Ruyter.
In seinem 68. Lebensjahr sandten die Generalstaaten de Ruyter auf seine letzte Fahrt, um gemeinsam mit Spanien die französische Flotte unter ihrem berühmten Admiral Duquesne im Mittelmeere anzugreifen und Messina zu nehmen, das sich gegen die spanische Herrschaft erhoben hatte. Mit dunklen Ahnungen hatte de Ruyter Abschied von den Seinen genommen und zu seinem Schwiegersohne geäußert, daß er wohl wisse, daß er diesmal nicht wiederkehren werde. Auch hatte er Einspruch gegen die Absicht der Generalstaaten erhoben, ihm nur 18 Schiffe zu diesem Seezuge mitzugeben der ihn gegen die von Colbert geschaffene, damals so tüchtige französische Flotte führen sollte. Als seine Einwendungen und Warnungen fruchtlos geblieben waren, gehorchte er mit den Worten: „Ich fange nicht an, den Mut sinken zu lassen. Aber ich wundere mich, daß den Herren die Flagge des Landes so wohlfeil ist. Doch wo die Herren Staaten ihre Flagge wagen, dort wage ich auch mein Leben“.
Am 16. August 1675 setzte er seine Flagge auf der „Eintracht“. Am 29. April 1676 stirbt er an Bord dieses Schiffes an der französischen Kugel, die ihm acht Tage vorher in der unentschiedenen Schlacht vor dem Aetna während des Duells der beiden Admiralschiffe beide Beine zerschmettert hatte. Wenige Tage, nachdem sein glanzvolles Leben äußerlich durch die Verleihung des spanischen Herzogtitels gekrönt worden war. Eine düstere Leichenfeier von grauenvoller Schönheit wurde ihm zuteil, noch ehe alle Glocken Hollands ihm das Grabgeläute sangen. Einen Monat nach der Schlacht vor dem Aetna griff die französische Flotte mit Brandern die im Hafen von Palermo ankernde spanisch-holländische Flotte an und steckte deren größten Teil in Brand; das Feuer griff auf die auf der Innenreede liegenden Handelsschiffe über und in wenigen Augenblicken waren Stadt und Hafen von Palermo ein ungeheures Flammenmeer, aus dem die Stichflammen der auffliegenden Pulverkammern wie riesenhafte Totenfackeln rings um die heilgebliebene „Eintracht“ aufloderten, auf der, einbalsamiert, de Ruyters Leiche ruhte. Dreiviertel Jahre später geleitete der Rest der Flotte ihren toten Admiral in die Heimat, vorbei an den Küsten Frankreichs, von denen beim Vorüberziehen der „Eintracht“ der Ehrensalut fiir den großen Gegner donnerte. Sein Herz ruht auf einer kleinen, namenlosen Insel in der Bai von Syrakus.
Transkriptende. Buchrettung